Für uns ist eine 52er eine 52er, eine Lokomotive gewordene Selbstverständlichkeit gewissermaßen. In Wirklichkeit ist der Umstand, dass die Kriegslok so wurde wie sie aussieht das Ergebnis eines schier unglaublichen Prozesses von Kuriosem und Krudem, Konkurrenz und Inkompetenz. Liebäuglern autokratischer Strukturen sei ins Stammbuch geschrieben, dass eben nicht schlanke und effektive Hierarchien jene Zeiten auszeichneten, im Gegenteil waren Kompetenzkonflikte - wie auch Knipping/ Hütter/ Wenzel ausführen - typisch für das "Dritte Reich; bestenfalls konnte man von "polykratischem Kompetenzgerangel" sprechen. Alfred B. Gottwaldt hat dieses in seinen Publikationen über die deutschen Kriegslokomotiven, insbesondere in seinem gleichnamigen Werk von 1974, in hervorragender Art und Weise dargestellt. Auf seine Ausführungen werde ich mich in den folgenden Zeilen stützen.
Spätestens Ende 1941 war klar, dass die Reichsbahn im Osten das für die Truppe erforderliche Transportaufkommen nicht würde bewältigen können. Abgesehen davon, dass ohnehin zu wenig Kapazitäten vorhanden waren, waren die Lokomotiven für die Bedingungen des russischen Winters denkbar ungeeignet. Aus der Heimat nachgeführte Lokomotiven mussten bereits bei ihrem Eintreffen in Brest wegen Frostschäden abgestellt werden. Die Ausfälle betrugen 70%, teilweise noch mehr. Ausrüstung und Munition kam nicht mehr an die Front, selbst die dringlichsten Rüstungstransporte konnten nur zu 30% bedient werden. Nun kam es endgültig zum "Knall" zwischen OKW und Reichsbahn. Es entbrannte ein erbitterter Streit darüber, wer die Verantwortung zu tragen habe.
Am 20.10.1941 kam es zu einer Besprechung von "Industrieführern" des Vierjahresplanes, bei der der Vorsitzende der Deutschen Lokomotivbau-Vereinigung, Oscar R. Henschel (1) - ohne dass er beauftragt worden war zu diesem Thema zu referieren - im Namen der durch ihn vertretenen Fabriken zum Ausdruck brachte, dass die Werke 20% mehr Maschinen liefern könnten, wenn die Reichsbahn endlich eine geeignete Konstruktion vorlegen würde. Kurz gesagt: Die Einheitsloks waren zu teuer in der Herstellung und zu kompliziert im Betrieb; darüberhinaus sei das gesamte bisherige Beschaffungsverfahren ineffektiv. Bei der nächsten Besprechung am 07.11.1941 legte Henschel nach, dass sich in 1 Million Lohnstunden zwar 81 G 10, aber nur 56 Lokomotiven der Baureihe 50 bauen ließen (2) - woraufhin sich Borsig sofort bereit erklärte, die Fertigung für die G 10 wieder aufzunehmen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die G 10. 1941. Eine 30 Jahre alte Konstruktion. Und das, eineinhalb Jahrzehnte nach dem Beginn der Ära der Einheitslokomotiven. Was Borsig zu dieser vollmundigen Äußerung veranlasste bleibt sein Geheimnis, zudem sich nämlich bald herausstellte, dass sein Werk keine einzige Vorrichtung zur Fertigung des preußischen Fünfkupplers (Kümpelgesenk usw.) mehr besaß.
Aber die "Marschrichtung" war klar: Im Prinzip hieß es, der "unfähigen" Reichsbahn bei Konstruktion und Beschaffung den Stuhl vor die Tür zu stellen. Unumwunden führte Landesbaurat Krauss aus München aus, dass sich hier nun die Gelegenheit böte, gegenüber "... der bisherigen Handhabung ... eine grundsätzliche Wandlung zu schaffen."
Im Dezember 1941 wird in Sachen Kriegslokomotive eine Arbeitsgemeinschaft gegründet aus Firmenvertretern und RAW-Direktoren unter Ausschluss des Reichsbahn-Zentralamtes. Noch am gleichen Tag, dem 17.12.1941, werden die Produktionszahlen für 1943 bekanntgegeben; neben den geplanten Zahlen für die Reihen 44, 50, 86 und 42 fällt uns in der Liste die Angabe "BR 83 (1'E1' als Ersatz für T 14, T 16) = 100 Stück" auf.
Obwohl in der anschließenden Sitzung des Technischen Ausschusses des DLV das geforderte Leistungsprogramm - Beförderung von 850 Tonnen mit einer mindestens 10 Prozent über der für Militärzüge vorgeschriebenen Vmax - als "für einen E-Kuppler nicht durchführbar" bewertet wird, werden in der Folgezeit dennoch ausschließlich Fünfkupplerentwürfe eingereicht. Die Frage war nur: Vereinfachung einer bereits in Produktion befindlichen oder Konstruktion einer völlig neuen Type?
Den Lokomotivfabriken sollte "hinsichtlich der Konstruktion ... völlig freie Hand gelassen werden", ade Einheitslokgrundsätze. Wagner verstand und trat von seinem Amt zurück; sein Lebenswerk war durch den Krieg ohnehin beendet.
Bei der DLV gingen nun Kriegslokentwürfe von Borsig, Esslingen, Henschel, Jung, Krauss-Maffei, Maschinenbau-Bahnbedarf und Schichau sowie WLF ein, die am 06.02.1942 dem Verkehrsministerium vorgelegt wurden. Die Entwürfe sind überaus interessant: Von der vereinfachten 50er über eine Eh2 mit 1300mm-Kuppelrädern, "in die nach Wiederkehr normaler Verhältnisse noch eine führende Laufachse eingebaut werden könnte" bis zur 1'E mit hinter den Zylindern liegender Vorlaufachse ist praktisch alles dabei.
Auf besonderes Interesse stößt aber der mit Beugniothebeln ausgestattete E-Kuppler von WLF. Insbesondere wegen der großen Arbeitszeitersparnis (14 Prozent) und der Verringerung des Kontigentgewichtes (20t) gegenüber einer vereinfachten BR 50 wird die Wienerin der Einheitslok bei der Sitzung des technischen Ausschusses am 13.02.1942 vorgezogen. Problematisch ist jedoch, dass für diese Maschine ein Blechrahmen angedacht ist, jedoch Esslingen, Henschel, Krupp, Maschinenbau-Bahnbedarf und Schwartzkopff nur mit großen Schwierigkeiten in der Lage sind, in der Fertigung wieder zu diesem zurückzukehren. Man einigt sich darauf, dass man umgehend zur vereinfachten Fertigung der Reihen 42, 44 und 50 übergehen möge, um den Lokausstoß 1942 wenigstens noch um 15% steigern zu können. Auch an der Fertigung der Reihe 83 wird zu diesem Zeitpunkt noch festgehalten. (3)
Am 05.03.1942 wurde das "Führerprogramm" verabschiedet, das den Bau von 15000 Lokomotiven innerhalb zweier Jahre - d.h. die Fertigstellung von täglich 20 Lokomotiven - vorsah. Zwei Tage später schloss Speer mit Dorpmüller eine Vereinbarung, die die Fahrzeugbeschaffung der Reichsbahn in die Rüstungsproduktion integrierte. Teile dieser Vereinbarung lesen sich allerdings ausnehmend befremdlich. So seien in den "Hauptausschuss für Schienenfahrzeuge" "bewusst Ingenieure, die aus anderen Fertigungsgebieten (kommen) und daher "frei von ... sogenannter Betriebsblindheit sind" zu berufen. Der Hauptausschuss ist zudem frei von jeder Bindung an das Reichsbahn-Zentralamt und das Reichsverkehrsministerium; inwiefern Sachbearbeiter der Reichsbahn "beratend" hinzugezogen würden, entscheidet er selbst.
Damit war das Reichsbahn-Zentralamt, eigentlich die Reichsbahnführung überhaupt, neutralisiert. Todt wie Speer waren der Auffassung, dass eine Produktionssteigerung unter Mitarbeit der Reichsbahnstellen ausgeschlossen wäre. Wo immer möglich setzte Speer nun Industrievertreter an die entscheidenden Stellen, die mit aller Kraft die Einführung von Massenfabrikation nach amerikanischem Muster einzuführen hatten. Zudem wurde eine obere Altersgrenze eingeführt - wer über 55 war, bekam einen jüngeren Vertreter an die Seite gestellt.
Dieser Hauptausschuss bezog nun - an der Quelle saß der Knabe - seinen Sitz in Charlottenburg, Bismarckstraße 112; im gleichen Haus, in dem die Deutsche Lokomotivbau-Vereinigung residierte. Ihr Leiter war Gerhard Degenkolb, der schon bald durch seinen harten Führungsstil, unangekündigte nächtliche Werksinspektionen und sein diktatorisches Wesen von sich reden machte. Seine Antrittsrede, der dieses Zitat entnommen ist, ließ keine Fragen offen: "Starker Glaube, unerhörte Härte, Verzicht auf eigene Bequemlichkeit lösen das Problem. Zuschlagen, manchmal auch daneben, ist besser als Nichtstun!"
Unterdessen - und während die Vereinfachung in Fertigung stehender Baureihen voranschritt - lag die Aufmerksamkeit beim laufachslosen Fünfkuppler von WLF. Insbesondere was die Entgleisungssicherheit betraf bestanden große Zweifel, die aber nach Versuchsfahrten mit einer mit Beugniothebeln ausgestatten G 10 (welcher?) ausgeräumt werden konnten. Am 17.03.1942 waren die Würfel gefallen; Degenkolb persönlich gab den Bau von drei Maschinen in Floridsdorf unter der Nr. 1030 in Auftrag. Und so hätte sie ausgesehen:
Retusche nach einem Originalfoto mit freundlicher Genehmigung der Fa. Roco/ Modelleisenbahn Holding GmbH
Die bildliche Umsetzung als fiktives HO-Modell entspricht dem letzten Konstruktionsstand, der Zeichnung WLF Nr. 1865 vom 11.04.1942. Das Konzept ist das eines laufachslosen Fünfkupplers mit Beugniot-Lenkgestellen. Blasrohr, Einströmrohre und Zylinder befinden sich in einer Ebene. Sandkasten und Dampfdom sind zu einem (Blech-)Aufbau auf dem Kesselscheitel zusammengefasst; die Lichtmaschine befindet sich unter der Blechverkleidung des Frostschutzes unmittelbar vor dem Führerhausdach. Wer die Pumpen vermisst: Diese befinden sich, ebenfalls frostfest verkleidet, unmittelbar vor dem Führerhaus auf der Lokführerseite. Das - geschlossene - Führerhaus selbst mit vereinfachter Be- und Entlüftung entspricht prinzipiell dem der 52er mit nur einem Fenster pro Seite und einer Art Faltenbalgübergang zum Tender. Dieser wiederum ähnelt stark dem Steifrahmentender K 4 T 30, wie er später realisiert wurde, ist jedoch abweichend proportioniert. Leistungsmäßig wäre die Eh2 zwischen G10 und der später tatsächlich ausgeführten BR52 gelegen und damit wohl in der Lage gewesen, die geforderten 850 Tonnen in der Ebene mit 65km/h zu befördern.
Allein - zu ihrer Ausführung kommt es nie. Obwohl bereits am 19.03.1942 in aller Eile begonnen wurde, mussten die Arbeiten am 10.04.42 auf Anweisung Degenkolbs wieder eingestellt werden (Dennoch dürfte der Floridsdorfer Fünfkuppler der Realisierung näher gewesen sein als es die ominöse "53er" jemals war - die Mär vom halbfertigen Mallet-Prototypen ist anscheinend unausrottbar) (4). Was war passiert? Inzwischen hatte sich der "Arbeitsausschuss Verbindung zur Reichsbahn" - man fragt sich: was ist das nun wieder? - unter Witte durchgesetzt, dass der 1'E-Type gegenüber der E der Vorrang gebühre: Die Vorlaufachse erlaube höhere Geschwindigkeiten und einen besseren Lauf, und eine Massenproduktion lasse sich durch Umkonstruktion und weitere Vereinfachung der BR 50 eher erreichen.
Damit waren die Würfel zugunsten der vereinfachten Einheitslok gefallen. Mit der neuen Type wollte man 1942 die Produktionsziffer auf 2000 steigern, 1943 verdoppeln, wie Speer Hitler am 06.05.1942 mitteilte. Am gleichen Tag wurde die DLV aufgelöst und die GGL - "Gemeinschaft Großdeutscher Lokomotivfabriken" - gegründet, an deren Spitze der bereits erwähnte Landesbaurat Krauss stand, der sich mit seiner Kritik an der Reichsbahn-Beschaffungspolitik und der Einheitslok so hervorgetan hatte.
Mittlerweile war die Vereinfachung der Reihe 50 so weit vorangeschritten, dass man sie - im Unterschied zur Ursprungsbaureihe - als "K 50" einzureihen gedachte. Schließlich rang man sich doch dazu durch, ihr eine eigene, doch benachbarte Baureihenbezeichnung zu geben. "51" ging nicht, die war schon an die CSD-Reihe 623.0 vergeben (5). Und "52" war auch nicht möglich, es gab nämlich schon zwei 52er - die zwei EWA-Lokomotiven II b 16 und 17. Kurzerhand wurde die II b 16 zur "Auswaschanlage A 20", und die 17 zur 53.78, und der Bürokratie war genüge getan. Die Floridsdorferin übrigens hätte eigentlich als laufachsloser Fünfkuppler zur 57 werden müssen. Da man aber rund dreieinhalbtausend Länderbahn-Fünfachser schlecht umnummerieren konnte, wäre womöglich auch die Wienerin zur "52" geworden, weswegen ich die Baureihenbezeichnung unangetastet ließ.
Mit ihrem Nicht-Bau verlässt die Kriegslok, die nie war, das Podium der Eisenbahnhistorie, und wir mit ihr. Die Geschichte der 52er hingegen geht jetzt erst so richtig los, sie füllt bekanntermaßen Bücher. Gottwaldt sagt, die Eisenbahn selbst sei per se weder gut noch böse; sie sei immer das, was der Mensch aus ihr mache. Es steht völlig außer Frage, dass alle deutschen Kriegslokomotiven - es gab ja auch britische und amerikanische - nur zu einem einzigen Zweck konstruiert und gebaut wurden. Nämlich dem, innerhalb einer kriegswichtigen Transportkette ihren Beitrag zu leisten zum Sieg in einem verbrecherischen, völkermordenden Vernichtungskrieg.
Als aber nach diesem Krieg tausende dieser Lokomotiven, vornehmlich in den Ländern des Ostblocks, herumstanden lag es nur nahe, sie zum Wiederaufbau der kriegsgezeichneten Länder einzusetzen, was ihnen in mehr als einer Quelle den Beinamen "Aufbauloks" beibrachte. Dass diese unkaputtbaren Maschinen, deren Lebenszeit auf fünf Jahre konzipiert war, noch ein halbes Jahrhundert lang bis zum Dampfende in Osteuropa Dienst taten, ist schier unglaublich - und meines Wissens nach stehen noch heute, während ich diese Zeilen schreibe, auf der Anschlussbahn des Kraftwerks Tuzla und in den Minen Dubrave und Sikulje in Bosnien-Herzegowina 52er im planmäßigen Einsatz.
Wäre die "andere 52er" in die Massenproduktion gegangen, dürfte ihre Geschichte wohl ähnlich verlaufen sein wie die ihrer großen Schwester. Als Modellbahner sind wir Gott in unserer Welt. So hindert uns nichts daran - falls sich jemand für die Floridsdorferin im Modell begeistern sollte - sie in unserem Paralleluniversum zu realisieren. In einer kleinen, heilen Welt wie sie sich jedermann wünscht - als Kriegslok ohne Krieg.
Grüße!
Christian
(1) Oscar R. Henschel ist jener Spross des Henschel-Stammes, unter dem die traditionsreiche Firma aufgrund dessen Geschäftsgebarens 1957 in den Vergleich gehen und 1958, bislang in Familienbesitz, an neue Gesellschafter verkauft werden musste
(2) Was eine Milchmädchenrechnung ist, da eine "...Lok mit der Achsfolge E stets eine geringeren Aufwand an Werkstoffen und Arbeitszeit benötigt als ein 1'E-Modell"
(3) Es irritiert dass man sich in Form der 44ÜK für den Drilling und nicht für den - technisch weitgehend identischen, einfacher zu fertigenden und für Kriegsbedingungen wesentlich geeigneteren - Zwilling, die Reihe 43 als ÜK entschied. Dies sollte sich insbesondere bei den Einsätzen im Osten noch rächen - es war sicherlich keine Freude für die Personale, unter den Verhältnissen des russischen Winters "Mitte zu machen", was zu einer Vernachlässigung des Innentriebwerks führte. So mussten alle von Borsig neu abgelieferten und mit Wirkung zum 2. Februar 1943 dem Front-Bw Snamenka, RVD Dnjepro zugewiesenen 44er (44 1542 - 1547) bis April 1943, also gerademal zwei Monate später, schadhaft ins RAW Göttingen einrücken.
(4) ceterum censeo: Weder "53" (wg. Achslastgruppe), noch "Mallet" (keine Verbundausführung)
(5) Diese habe ich bereits hier näher vorgestellt