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Der Fluch der Akribik, Teil 232
DAS VERFLUCHTE KIND
Also wenn euch jemals dieses unscheinbare kleine Mädchen unterkommt, seht zu, dass ihr sofort das Weite gewinnt, in euren hoffentlich rechtzeitig vorbereiteten Bunker saust, die Panzertüre sofort hinter euch verriegelt und vorsichtshalber Weihwasser ins Türschloss schüttet:
Die Kleine ist nämlich mit einem der grässlichsten Flüche aus grauer Vorzeit belegt, von dem jemals ein H0-Wesen getroffen wurde. Ausgerechnet meinen Basteltisch traf dieser Fluch nun mit unbändiger Wucht. Und das kam so:
Jeder meiner Wagen sollte mindestens eine kleine Besonderheit erhalten, die ihn aus dem industriellen Figuren-Einerlei hervorhebt. Im ersten Wagen waren das z.B. die Herren mit ihren echt bedruckten Zeitungen, im zweiten die fein gemusterten Kleider und die Dame mit der Blindenschleife, und im dritten der Gendarm und der „Vabreha“, sowie der Kärntner-Anzug.
Im vierten Wagen sind das nun ein Vater mit einem kleinen Mädchen, die ich auf einer der beiden Plattformen positionierte.
Ich fand im aktuellen Figuren-Angebot keinerlei stehende Polystyrol-Figuren, die sich an einem Geländer anhalten, schon gar nicht solche mit separat beiliegenden Armen, die man in unterschiedlich hohen Positionen festkleben könnte. Also war wieder einmal Schnitzen angesagt.
Der Herr hatte ursprünglich einen Hut. Da aber am 22. August 1955 prachtvolles Kaiserwetter mit Temperaturen um die 30° C herrschte, womit man bei Preiser bei der Konstruktion dieser Figur offenbar nicht gerechnet hatte, lies er seinen Hut zu Hause und genoss den Fahrtwind auf der Plattform. Also: Kopf ab und einen passenden hutlosen Kopf aus der Bastelkiste ankleben. Keine große Sache, rasch erledigt. Außerdem hatte der Mann ursprünglich Stiefel an. Da er aber nicht in den Stall wollte, sondern in die Bezirksstadt, schabte ich noch ein wenig mit dem Cutter an seinen Waden, und schon hatte er statt der Stiefel eine zeittypische [url= https://de.wikipedia.org/wiki/Knickerbocker]Knickerbocker[/url] und Stutzen.
So weit, so gut.
Das hübsche kleine Mädchen dagegen spielte ein ganz eigenes Spiel. Sie wiegelte mich geraume Zeit in Sicherheit, als der hinterhältig in ihr verborgene Dämon unvermutet und urplötzlich mit aller Wucht zuschlug.
Sie wartete heimtückisch ab, bis ich sie fast vollständig bemalt hatte. Und just als ich die letzten Pinselstriche auf ihre Füße setzte, um Sandalen anzudeuten, sprang sie in hohem Bogen in einen Behälter mit weißer Farbe. Ich bin mir ganz sicher, dass sie dabei höhnisch grinste.
Also: raus aus der Farbe, waschen, trocknen, neu bemalen. Um schließlich feststellen zu müssen, dass das kleine Luder seine linke Hand weggeschmissen hatte – ganz sicher in heimtückischer Absicht. Durchmesser der Hand: unterfliegenschissgroß. Ihr offensichtlicher Versuch, mich dem Wahnsinn anheimfallen zu lassen, misslang ihr aber gründlich, denn ich fand das Teil schon nach einer guten Stunde und klebte es wieder an. Ätsch.
Aber das dämonische Ringen ging sofort unvermindert weiter. Ich schwöre, ich hatte nur ganz kurz weggeschaut, und schon lag die eben angeklebte Hand wieder auf dem Basteltisch. Soooo nicht, meine Liebe! Also: wieder ankleben. Pinzette her, Händchen einklemmen, einen winzigen Tropfen Kleber drauf und - flutsch!
Der Fliegenschiss war wieder weg – diesmal für immer und ewig.
Wie also diesen grässlichen Fluch bändigen? Ich ging einigen recht konkreten Hinweisen eines befreundeten Zauberers nach. Ein rostiger Nagel, den ich auf ein Wegkreuz gelegt und dem Licht des Vollmondes ausgesetzt hatte, blieb völlig wirkungslos, ebenso eine Handvoll Friedhofserde vom Grab eines Selbstmörders, und auch ein von einem Leichenwagen überfahrener toter Frosch boten dem Fluch keinen erkennbaren Widerstand. Also griff ich zum Äußersten: zu 0,4mm Messingdraht. Ich bohrte der Unglücklichen ein 0,4mm-Loch in den verstümmelten Arm, quetschte einen passenden Messingdraht an einem Ende flach und feilte ihn in der Form einer Hand zurecht, längte ihn am anderen Ende ab und klebte ihn in den Arm ein.
Schluss mit lustig. Der Fluch war für immer weg, das kleine Mädchen ließ sich nun widerstandslos zu Ende bemalen. Ich richtete nun noch die Türschnalle gerade, die sich während des Getümmels gelöst hatte. Die verlorenen Mittelstreben des Bühnengeländers sind wieder aufgetaucht und werden in Kürze angeklebt.
Auch die SD-Card fand ich wieder, die der Dämon schon ganz zu Beginn unbemerkt aus meiner Kamera entschwinden ließ, sodass ich zwar einige Dutzend Male den Auslöser drückte, es heute aber dennoch keine Bilder von den einzelnen Phasen dieser kleinen Bastelei gibt.
Wenn also ein unzählige Jahrtausende alter Fluch aus einer Zeit, als Menschen und Zauberer noch auf einer im Nebel verborgenen fernen Insel, wo sie für ihre Frauen nicht erreichbar waren, Met tranken, einander sexistische Witze erzählten und an einer gemeinsamen Modellbahn bauten, wenn also so ein uralter, mächtiger Fluch euch an eurem Basteltisch niederringen und euch den Atem nehmen will, bis ihr glaubt, zu ersticken, versucht es doch ganz einfach mal mit 0,4mm Messingdraht…
P.S. für Enrico
Lieber Enrico, ich schreibe hier aus gutem Grund ganz bestimmt keine BauANLEITUNGEN, wie du kürzlich in einer PN gemeint hast, sondern ausschließlich BauBERICHTE. Akzeptiere das bitte und sei froh, dass es so ist. Jemand, der den heutigen Beitrag für eine Bauanleitung hält, müsste nämlich einen Bunker bauen, sich dann zielstrebig auf die Suche nach einer von einem Dämonen besessenen Polystyrolfigur machen (ich stelle mir gerade das Gesicht des Verkäufers im Modellbahn-Shop vor) und schließlich bis hin zur Suche nach einem von einem Leichenwagen überfahrenen Frosch allerlei Stationen durchlaufen, die sich seinen Angehörigen und Ärzten als ganz klare Beweise für fortgeschrittenen Irrsinn darstellten. Dies hätte selbstredend eine sofortige Entmündigung desjenigen zur Folge…
Liebe Grüße
euer Karl