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Der Fluch der Akribik, Teil 226
WIRTSCHAFTSWUNDER
Ein Wort zur gelegentlichen Knollendiskussion der letzten Wochen:
Zur Ehrenrettung des Paul Preiser sei angemerkt, dass so manche Knolle auf meinen Figuren nicht der Preiserschen Gravur geschuldet ist, sondern der Wärme auf meinem Balkon. Die Farbe trocknet nämlich so rasant, dass ich manchmal gar nicht schnell genug mit der Pinselspitze an die Figur herankomme und die winzige Farbmenge im Pinsel schon trocken ist, bevor ich die Figur berühre. Kein Scherz. Meistens gelingt es natürlich, die Farbe aufzutragen, aber sie neigt dazu, beim Streichen kleine Farbknollen zu bilden, wie wir sie bei Elvira gesehen haben. Das ist aber nicht weiter tragisch, denn die Fotos, die ich hier zeige, bilden die Figuren ja in zwei- bis vierfacher Vergrößerung ab. Schon aus geringer Entfernung sieht man diese Knollen mit freiem Auge nicht. -
So, der erste Wagen ist voll. Ich will es natürlich sogleich wissen: was sieht man nun tatsächlich von außen – zumal ohne Beleuchtung? Also schnell mal provisorisch das Dach aufgesteckt:
Das Ergebnis überrascht mich positiv. Keine Spur von „sieht man eh nix“. Die Fahrgäste an den Fenstern kommen auch ohne Beleuchtung prima zur Geltung, Elviras Blumenkleid zum Beispiel kann man bestens erkennen.
[Edit 5.05.2018] Ich setze allerdings eine gute Beleuchtung voraus, wie sie heute auf einer jeden schön durchgestalteten Modellbahn Standard sein sollte, denn der Wagen wird hier angeleuchtet. In einer dunklen Ecke funktioniert 's natürlich nicht.
Apropos Dach: die Figuren habe ich alle mit Cyanacrylatkleber eingeklebt. Dennoch gab es keinerlei weiße Beaufschlagungen an den Fenstern. Ich nehme an, das hat damit zu tun, dass ich die Fenster vor dem Einbau perfekt geputzt habe und vielleicht auch damit, dass ich das Dach frühestens nach 24 Stunden aufsetzte, damit der Wagen gut auslüften konnte.
Keine gelben oder orangen Haare, keine glänzenden, grellen grünen, blauen, gelben oder roten Gewänder, einigermaßen glaubwürdige Sitzpositionen, ich bin soweit zufrieden. Es kann also fröhlich weitergehen.
Und was ist mit dem Wirtschaftswunder, der heutigen Überschrift?
Nun, gestattet mir diesmal eine Buchrezension. Ich habe nämlich – vielen Dank an Stefan - [url= https://www.amazon.de/Josef-Heinrich-Dar...y/dp/3836540169]ein neues Lieblingsbuch[/url].
Klaus Honnef und Frank Darchinger präsentieren auf über 200 Seiten Fotos des legendären Fotografen Josef Heinrich Darchinger aus den 50er Jahren, ein großer Teil davon in Farbe. Fast jedes davon zeigt – entsprechende Muse zur genauen Betrachtung vorausgesetzt – etliche Dinge, die es heute nicht mehr gibt.
Gleich das erste Farbfoto auf Seite 2 zeigt drei Mädchen auf einem Schutthaufen vor einem schwer kriegsbeschädigten Gebäude. Zwei tragen lange braune Stutzen, ein No-Go in der heutigen Kinder-Sommermode. Markenkleidung, Jeans, Turnschuhe? Gibt’s noch nicht. Stattdessen Lederschuhe und lederne Sandalen. Keine der jungen Damen blickt auf ein Smartphone. Das rechte Mädchen trägt Zöpfe jener biederen Art, gegen welche sich eine Achtjährige heute mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wehren würde, zum Beispiel mit einem Anruf bei der Fürsorge, ob man ihr nicht ihre völlig verrückt gewordene Mutter vom Hals schaffen könnte.
Fast jedes weitere Bild zeigt dem analytisch denkenden Betrachter deutliche Unterschiede zur Gegenwart.
Zahlreiche Straßenszenen helfen dem Epoche III-Enthusiasten bei der Auswahl seiner Fahrzeugmodelle: viel Schwarz, dunkles Blau und dunkles Grün, viele helle Grün-, Grau- und Blautöne, wenig Weiß und wenig Weinrot. Kein Gelb, kein helles Rot, kein kräftiges mittleres Blau, nichts, was der Grafiker heute unter „Schmuckfarbe“ versteht. Anders ausgedrückt: geschätzt mehr als 80% des aktuellen Angebotes an Epoche III-Automodellen entspricht farblich nicht dem, was damals tatsächlich auf deutschen Straßen unterwegs war.
Etliche Abbildungen geben einen Eindruck davon, wie Menschen verschiedener Einkommenskategorien wohnten, wie Sitzmöbel und Lampen aussahen, welche Zeitungen man las usw.
Die im Buch gezeigte Wohnsituation der Rentner und der Flüchtlinge entspricht durchaus jener der ärmeren Landbevölkerung bei uns: abgewohnte, jahrzehntealte Möbel in winzigen Räumen, billige Plastiktischtücher, einfachstes Geschirr, zu wenig Stauraum und daher ein unaufgeräumter Gesamteindruck.
Zahlreiche Abbildungen zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Schichten zu verschiedenen Jahreszeiten im Beruf und in der Freizeit gekleidet waren. Form und Länge der Damenröcke lösten bei den jungen Damen in unserem Haus übrigens schallendes Gelächter aus: das ist – mit kräftigeren Farben und mit etwas frecheren Stoffen – gerade eben wieder Mode!
Für das Bemalen meiner Figuren fand ich etliche konkrete Vorbilder, wie zum Beispiel dieses hellgelbe Kleid mit braunem Gürtel…
…oder dieses hier:
Soweit mein neues Lieblingsbuch. -
Daneben entstand diese Woche noch etliches anderes Volk, wie zum Beispiel die Burgi, die ihre Tasche mit den Jausenbroten aus Angst, bestohlen zu werden, die ganze Fahrt lang verkrampft festhält, …
… oder Annemarie mit ihrem Rosenblütenkleid, …
…oder Reinhard, der auf der Fahrt ins Büro immer wieder kurz einnickt:
Bei Reinhard legte ich, wie auch bei allen anderen Sakko-tragenden Herren, Wert darauf, dass die Ärmel des Hemdes im Bereich der Hände sichtbar sind. Das ist, wie das Malen von schmalen Gürteln, keine große Hexerei, sondern nur eine Frage der Reihenfolge:
Hemd als breiten Streifen malen und zu den Händen hin scharf abgrenzen – zum Sakko hin darf gekleckert werden
Sakko bemalen, Hemd so übermalen, dass nur noch ein schmaler weißer Streifen stehen bleibt, zum Sakko hin scharf abgrenzen.
So, das muss für heute genügen, denn ich ziehe mich mit meinem neuen Buch wieder in die Leseecke zurück.
Nächste Woche wird es übrigens richtig spannend, denn da befasst sich die Gendarmerie mit einem gaaanz schweren Jungen...
@ Erich: das sagst du mir jetzt erst!!!
@ Ermel: der Hinweis auf das Blumenmuster war richtig unwiderstehlich, das musste ich natürlich sofort probieren...
Liebe Grüße
Euer Karl