Ich kann nicht erkennen, dass die chinesische der europäische Eisenbahnindustrie in irgendeiner Weise technisch voraus ist, geschweige denn sie technologisch abgehängt hat. Mehrsystemfähige Fahrzeuge - egal ob im Hinblick auf die Stromversorgung, die Zugsicherungstechnik oder die Spurbreite - sind auch keine neuen Technologien, sondern Stand der Technik und seit Jahren, teilweise Jahrzehnten Realität auf europäischen Schienen.
Nun ist es halt auch so, dass Eisenbahnfahrzeuge auf Basis von Lastenheften entwickelt werden, und dass Lastenhefte sich am tatsächlichen Bedarf orientieren. Niemand würde in sein Lastenheft umspurfähige Achsen hineinschreiben und die damit verbundenen Mehrkosten auf sich nehmen, ohne dass es einen tatsächlichen Bedarf gibt. In Europa gibt es diesen Bedarf in Bezug auf Hochgeschwindigkeitszüge aktuell jedoch nicht. Spanien hat sein Hochgeschwindigkeitsnetz in Normalspur gebaut. Ebenso wird Rail Baltica in Normalspur gebaut. An einen grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitsverkehr mit Russland ist aktuell nicht zu denken. Sollte sich dies einmal ändern und entsprechende umspurfähige Fahrzeuge geordert werden, ja dann würde man sie halt einfach entsprechend Kundenanforderungen bauen; denn wie gesagt handelt es sich um seit Jahrzehnten im Einsatz befindliche, etablierte Technik.
Es gibt ja durchaus berechtigte Kritik am Zustand und an der Innovationskraft der Eisenbahnen in Europa und speziell in Deutschland. Dass irgendein chinesicher Hersteller einen umspurfähigen Hochgeschwindigkeitszug baut ist aber weder ein Indiz für die technologische Abgeschlagenheit der europäischen Eisenbahnindustrie, noch ein Lösungsbeitrag für die existierenden, im wesentlichen politisch bedingten Probleme.
P.S.: Der Transrapid ist eine Lösung von gestern für ein Problem von gestern. In den 60er Jahren war nicht absehbar, ob das Rad-Schiene-System für Geschwindigkeiten weit oberhalb von 200 km/h geeignet sein würde. Der Transrapid war aus dieser Situation heraus eine ernstzunehmende Alternative. Bereits in den 80er Jahren wurde jedoch gezeigt, dass das Rad-Schiene-System sehr wohl für Geschwindigkeiten auch oberhalb von 400 km/h geeignet ist. Seit dem hat der Transrapid, bis auf die Befriedigung einer gefühlten Anforderung nach "Modernität", weder funktional noch bei den Lebenszykluskosten einen systemimmanenten Vorteil gegenüber dem Rad-Schiene-Sytem. Dass wir den Transrapid nie gebaut haben, ist also keinesfalls ein Zeichen von Rückständigkeit, sondern angesichts der gewonnenen Erkenntnisse schlichtweg konsequent. Auch brauchen wir nicht zu glauben, der Transrapid hätte europaweit die verschiedenen "Formate" ersetzen können. Zum einen wurde die gütertauglichkeit des Transrapids immer verneint, zum anderen wäre die komplette Umstellung allein des aktuell 33.400 km langen Streckennetzes der DB auch mit einem Vielfachen des zur Verfügung stehenden Verkehrs-Etats der BRD illusorisch. Nein, der Transrapid hätte nicht mit den verschiedenen Formaten aufgeräumt, sondern ihnen lediglich ein weiteres hinzugefügt, welches mit keinem der anderen kompatibel ist und sich im Gegensatz zu verschiedenspurigen Schienen oder unterschiedliche Stromsysteme auch nicht durch mehrsystemfähige Fahrzeuge mit dem Rest verbinden ließe.